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2025: ein Europa mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in der Nuklearpolitik

Veröffentlicht am 24. Oktober 2025

  • Energiewirtschaft
  • Sustainability
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In Kürze

  • Am Vorabend der 6. Ausgabe der World Nuclear Exhibition (WNE), die vom 4. bis 6. November in Paris stattfindet, möchte Wavestone einen Ausblick auf die europäische zivile Nuklearbranche 2025 geben – im Hinblick auf die aktuellen Herausforderungen der Klima- und Energiekrise.
  • Im Jahr 2025 investieren 23 europäische Länder in die zivile Nutzung der Kernenergie. Auch wenn die Debatte in einigen Ländern weiterhin präsent ist, gilt Kernenergie zunehmend als tragfähige Säule eines zukunftsfähigen Strommixes.
  • Kernenergie etabliert sich insbesondere in Osteuropa als entscheidender Hebel für Energiesouveränität. Nach der Invasion der Ukraine durch Russland wird die Notwendigkeit, stabile Energiepreise zu sichern, dringlicher denn je.
  • SMR (Small Modular Reactors) entwickeln sich zu einem gemeinsamen strategischen Instrument.

Zwischen 2006 und 2023 ist die europäische Kernenergieproduktion um 32 % zurückgegangen und macht 2024 weniger als 25 % der Stromerzeugung in der EU aus. Dennoch markiert das Jahr 2025 einen Wendepunkt. Nach der Invasion der Ukraine durch Russland wird das Streben nach Energiesouveränität zu einem gesamteuropäischen Anliegen. Zahlreiche Länder prüfen die Kernenergie erneut als strategische Säule ihres Strommixes – getrieben vom Bedarf, die Energiepreise zu stabilisieren.
Diese Entwicklung zeigt sich bereits auf globaler Ebene: Weltweit sind derzeit 417 Kernreaktoren in 31 Ländern in Betrieb, ergänzt durch 62 Reaktoren im Bau. Kernenergie liefert rund 9 % des weltweiten Stroms und ist nach Wasserkraft die zweitgrößte kohlenstoffarme Energiequelle.
Europa zählt rund hundert aktive Reaktoren, steht jedoch vor einem fragmentierten Landschaftsbild:

  • Westeuropa: führend und treibende Kraft der Nuklearindustrie
  • Mitteleuropa: Aufbruch zwischen Energiewende und regulatorischem Wandel
  • Nordeuropa: Innovation im Dienst der Dekarbonisierung
  • Osteuropa: Kernenergie als Schlüssel zur Souveränität
  • Die iberische Halbinsel und Österreich: die ewigen Skeptiker

Hinter den Investitionsankündigungen – die Europäische Kommission schätzt den Finanzierungsbedarf für Erhalt und Ausbau der Kernenergie bis 2050 auf über 240 Milliarden Euro – steht eine zentrale Frage: Können Small Modular Reactors die Rolle der Kernenergie im europäischen Energiemix grundlegend neu definieren?

Die Dynamik der europäischen Länder im Bereich der zivilen Kernenergie

GER-Wavestone-Kernkraftkarte Europas

Westeuropa: führend und treibende Kraft der Nuklearindustrie

Wenn in Europa über Kernenergie gesprochen wird, nimmt Frankreich unbestritten eine führende Rolle ein. Das Vereinigte Königreich verfügt seinerseits über den viertgrößten aktiven Reaktorpark des Kontinents. Belgien schließlich scheint nach einer deutlichen Kursänderung im Jahr 2025 eine pragmatische Energiepolitik zu verfolgen.

Wenn in Europa über Kernenergie gesprochen wird, gilt Frankreich als unangefochtener Marktführer. Mit 57 Reaktoren an 18 Standorten und einer installierten Leistung von 63 GWe verfügt das Land über den größten Nuklearpark des Kontinents. Diese Stärke beruht auf einer integrierten Industrie, getragen von weltweit führenden Akteuren wie EDF, Framatome und Orano, die ihr Know-how in über 30 Länder exportieren und jährlich rund 6 Milliarden Euro an wirtschaftlichen Effekten generieren. Die Branche zählt etwa 220.000 direkte und indirekte Arbeitsplätze und stützt sich auf ein leistungsfähiges Forschungsökosystem, repräsentiert durch das CEA. Hinzu kommt ein strenges Sicherheitsregime, das international anerkannt ist und Frankreichs Rolle als Pfeiler der europäischen Kernenergie und als Schlüsselakteur der Energiewende festigt.

Mitteleuropa: Aufbruch zwischen Energiewende und regulatorischem Wandel

Während Deutschland im Jahr 2023 offiziell aus der Kernenergie ausgestiegen ist, hat die Debatte darüber unter einer zunehmend wohlwollenden Regierung neuen Auftrieb erhalten – was mittelfristig oder langfristig eine mögliche Kehrtwende andeutet. Italien hingegen nimmt nach zehn Jahren ohne zivile Kernenergie einen vorsichtigen Wiedereinstieg in Angriff, getragen von einem klaren politischen Willen. Dänemark schließlich hat nach vierzig Jahren des Verbots einen symbolischen Schritt vollzogen, indem es ein Gesetz verabschiedet hat, das explorative Studien zur zivilen Nutzung der Kernenergie erlaubt.

Seit der endgültigen Abschaltung seiner letzten Reaktoren im April 2023 hat Deutschland offiziell auf die Nutzung der Kernenergie verzichtet. Diese Entscheidung ist Teil einer langjährigen Anti-Atompolitik, die durch den schrittweisen Rückbau bestehender Infrastrukturen verstärkt wurde.
Dennoch scheint die Debatte über Kernenergie neu entfacht worden zu sein – ausgelöst durch eine jüngst atomfreundlichere Regierung. Im Februar 2025 schlug diese ein Moratorium vor, um den Rückbau der drei letzten Reaktoren auszusetzen. Diese Initiative fällt in einen Kontext, in dem sich 67 % der deutschen Bevölkerung für Kernenergie aussprechen; einige Verbände fordern sogar die Wiederinbetriebnahme von mindestens sechs Reaktoren. Das Thema bleibt jedoch innerhalb der Regierung umstritten, was die Zukunft der Branche ungewiss macht.
Technisch gesehen würde die Wiederinbetriebnahme bestehender Reaktoren erhebliche Investitionen, Zeit und die Reaktivierung verstreuter Kompetenzen erfordern. Der Bau neuer Reaktoren erscheint daher als realistischere Option. Deutschland prüft zudem Alternativen wie SMR, die als flexibler und besser geeignet für aktuelle Herausforderungen gelten.
Darüber hinaus bleibt das Land in strategischen Bereichen der zivilen Kernenergie aktiv – etwa in der Brennstoffproduktion, der Abfallverarbeitung und der Kernfusion – und bewahrt damit Schlüsselkompetenzen für eine mögliche zukünftige Neuausrichtung.
Ein Comeback der Kernenergie in Deutschland ist mittelfristig möglich, hängt jedoch von der Lösung technischer und rechtlicher Herausforderungen sowie von politischen Entwicklungen ab.

Nordeuropa: Innovation im Dienst der Dekarbonisierung

Während Norwegen vorsichtig damit beginnt, Kernenergie in seinen Energiemix zu integrieren, verstärken Schweden und Finnland ihre Kapazitäten deutlich entschlossener.

Norwegen, lange zurückhaltend gegenüber der Integration von Kernenergie in seinen Energiemix, vollzieht im Jahr 2025 eine strategische Wende. Angesichts des steigenden Strombedarfs – insbesondere durch die Dekarbonisierung der Industrie und die fortschreitende Elektrifizierung bestimmter Sektoren – stößt das Land an physische Grenzen. Wasserkraft deckt derzeit über 90 % der Stromerzeugung, doch ihr Potenzial ist nahezu ausgeschöpft. Der Klimawandel, verstärkt durch jüngste Dürreperioden, verringert zusätzlich die Verfügbarkeit von Wasserressourcen und verschärft diese Einschränkung.

Vor diesem Hintergrund prüft die norwegische Regierung neue Lösungen, um eine kohlenstoffarme und souveräne Stromversorgung sicherzustellen. Im Mai 2024 leitete das Energieministerium eine öffentliche Konsultation ein, um die Integration von Kernenergie in den nationalen Energiemix zu bewerten. Die Ergebnisse dieser Studie, die bis 2026 erwartet werden, sollen insbesondere Fragen der Sicherheit, Abfallbewirtschaftung und Energiesouveränität beleuchten.
Die ersten, eher positiven Einschätzungen dieser Untersuchung wecken zunehmendes Interesse an Small Modular Reactors (SMR). Mehrere Pilotprojekte befinden sich bereits in der Planungsphase, insbesondere in den Gemeinden Aure und Heim, wo das Unternehmen Norsk Kjernekraft den Bau von zwei SMR-Reaktoren mit einer Gesamtleistung von 1,5 GW vorsieht. Diese kompakten und flexiblen Reaktoren bieten – im Gegensatz zu konventionellen, kostenintensiven und langwierigen Großprojekten – eine schnelle, skalierbare und industriekompatible Lösung für ein Land ohne etablierte Nuklearindustrie.

Osteuropa: Kernenergie als Hebel für Energiesouveränität und Sicherheit

Im Jahr 2025 gehört Polen zu den wenigen europäischen Ländern, die dank breiter öffentlicher Unterstützung ein ziviles Atomprogramm von Grund auf neu aufbauen. Rumänien und die Tschechische Republik müssen ihrerseits ihre bestehenden nuklearen Rahmenbedingungen anpassen, um neuen Herausforderungen zu begegnen.

Im Jahr 2025 gehört Polen zu den wenigen europäischen Ländern, die ein ziviles Nuklearprogramm aus dem Nichts aufbauen. Diese Neuausrichtung, die von einer stark befürwortenden öffentlichen Meinung getragen wird (über 90 % Zustimmung), ist durch eine doppelte Dringlichkeit motiviert.
Einerseits muss das Land seine Emissionen senken, um seine Klimaziele zu erreichen. Derzeit ist Polen zu 66 % von Kohle für die Stromerzeugung abhängig. Andererseits geht es darum, die Energiesouveränität in einem instabilen geopolitischen Umfeld zu sichern. Dieses Bestreben wurde insbesondere nach der Invasion der Ukraine im Jahr 2022 verstärkt, die einen abrupten Bruch in den Energiebeziehungen zwischen Russland und Polen markierte. Im Jahr 2021 stammten 81 % der polnischen Gasimporte aus Russland, hauptsächlich über die Jamal-Pipeline, die durch Belarus und Polen verläuft. Diese Versorgung wurde 2022 vollständig eingestellt, was das Land dazu veranlasste, sein Energiemodell zu überdenken.
Polen verfolgt das Ziel, im Rahmen des PEP40-Plans bis 2043 zwischen 6 und 9 GW an nuklearer Kapazität zu installieren. Zu diesem Zeitpunkt soll die Kernenergie etwa 16 % der nationalen Stromproduktion ausmachen. Das Vorzeigeprojekt dieser Initiative ist der Bau des ersten kommerziellen Kernkraftwerks des Landes. Dieses Vorhaben stellt die größte Energieinvestition in der polnischen Geschichte dar, wobei über 28 % durch öffentliche Mittel finanziert werden und staatliche Garantien 70 % der verbleibenden Kosten abdecken.

Parallel dazu positioniert sich Polen als zentraler Akteur im Bereich modularer Kernenergie mit einem Programm von 24 Small Modular Reactors (SMR), verteilt auf sechs Industriestandorte. Diese kompakten Reaktoren vom Typ BWRX-300, die in Serienbauweise entwickelt werden, sollen ab 2030 in Betrieb gehen und dekarbonisierte, lokale Energie für Industrie, urbane Wärmeversorgung und abgelegene Gebiete liefern. Das Projekt befindet sich in einer fortgeschrittenen Vorbereitungsphase mit abgeschlossener Governance und einer Steuerungsstruktur für den Bau. Es ist jedoch zu beachten, dass derzeit kein SMR in Europa in Betrieb ist. Polen verfügt jedoch über alle Voraussetzungen, um eine führende Rolle bei der Einführung dieser neuen Reaktorgeneration einzunehmen.

Die von Polen eingeschlagene Richtung verdeutlicht eine klare Strategie: Kernenergie soll ein Pfeiler der Energiesouveränität und langfristig ein strategisches Machtinstrument werden. Das Land hat sogar Interesse am gemeinsamen Nuklearprogramm der NATO bekundet.

Die iberische Halbinsel und Österreich: die ewigen Skeptiker

Während Spanien über das Tempo seines Ausstiegs aus der Kernenergie debattiert, verfolgt Portugal eine Strategie der 100-prozentigen Nutzung erneuerbarer Energien und bemüht sich gleichzeitig um die Sicherung seiner Versorgung. Auch Österreich hält seit 1978 an einem starken politischen und gesellschaftlichen Konsens gegen die zivile Nutzung der Kernenergie fest und investiert lieber in erneuerbare Energien.

Die iberische Halbinsel zeigt zwei unterschiedliche Ansätze zur zivilen Kernenergie, wobei beide Länder gemeinsame energiepolitische Herausforderungen teilen.

Spanien verfolgt seit 2019 einen Ausstiegsplan aus der Kernenergie (PNIEC) und hält am Ziel eines vollständigen Ausstiegs bis 2035 fest. Angesichts der intermittierenden Verfügbarkeit erneuerbarer Energien und fehlender Speicherlösungen hat der Blackout im April 2025 die Debatte neu entfacht. Immer mehr Stimmen fordern eine Verlängerung der Laufzeiten bestehender Anlagen – nicht um den Ausstieg rückgängig zu machen, sondern um den Zeitplan anzupassen.

Portugal hingegen verfolgt keine Nuklearprojekte und setzt auf einen Strommix, der zu 71 % aus erneuerbaren Energien besteht. Der Rückgang fossiler Energieimporte und die Stilllegung seines seit 2019 inaktiven Forschungsreaktors bestätigen diese Ausrichtung. Dennoch prüft das Land Netzsteuerungslösungen, insbesondere über Interkonnektoren mit Frankreich, um die Stabilität seines Stromsystems zu erhöhen.

Während Spanien über das Tempo seines Ausstiegs diskutiert, verfolgt Portugal eine 100 % erneuerbare Strategie und bemüht sich gleichzeitig um Versorgungssicherheit. Beide Länder teilen die gleiche Sorge: die Netzstabilität in einem energiepolitischen Übergang ohne Rückgriff auf Kernenergie zu gewährleisten.

Die Neuinterpretation der europäischen Kernenergie: der Aufstieg der SMR

Europa folgt keinem einheitlichen Modell, sondern entwickelt vielfältige nukleare Strategien. Wie zuvor dargestellt, reicht dies von industrieller Wiederbelebung über Modernisierung bis hin zum Aufbau neuer Programme. Selbst historisch ablehnende Länder wie Belgien oder Deutschland überdenken ihre Positionen angesichts neuer energiepolitischer Herausforderungen.

In diesem Kontext gewinnen Small Modular Reactors (SMR) in den europäischen Energieplänen an Bedeutung. Diese flexiblere und schneller einsetzbare Technologie macht Kernenergie besser geeignet für aktuelle Anforderungen. Sie ermöglicht den Ausstieg aus zentralisierten, kostenintensiven Modellen und eröffnet gezieltere und agilere Einsatzmöglichkeiten. So können Länder ohne historische Nukleartradition wie Norwegen oder Polen eine schrittweise Integration erwägen, während fortgeschrittene Staaten wie Finnland oder Schweden SMR als Lösung zur Diversifizierung in Richtung urbane Wärmeversorgung und Versorgung abgelegener Regionen betrachten.

Zusammenfassend könnten SMR die Rolle der Kernenergie im europäischen Energiemix neu definieren, indem sie sich leichter in lokale Netze integrieren und die Intermittenz erneuerbarer Energien ausgleichen. Europa hinkt jedoch derzeit hinter Nordamerika und Asien hinterher. Kanada hat bereits mit dem Bau des ersten kommerziellen SMR in Darlington begonnen, basierend auf einem standardisierten Modell (BWRX-300), das in Serie repliziert werden soll. Die USA setzen auf dasselbe Design, während China seinen ersten gasgekühlten SMR (HTR-PM) in Betrieb genommen hat und eine industrielle Skalierung vorbereitet.

Dennoch ist Europa nicht isoliert, sondern profitiert von technologischer Zusammenarbeit mit nordamerikanischen Partnern. Ein Beispiel dafür ist die Partnerschaft zwischen Rumänien und NuScale Power, unterstützt von den USA. Dieses Projekt zeigt eine konkrete Dynamik internationaler Zusammenarbeit durch den Austausch von Fachwissen und die Einführung gemeinsamer Standards.

Diese Veröffentlichung wurde mit Unterstützung von Bianca REDNIC und Nathan BRIERE erstellt. Unser Dank gilt auch Sophie DE MASSOL und François DE TORSIAC.

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